Das ist ein Gastartikel von Markus “Kerschi” Kerschhacker. Fast gehört er schon zum Miss Move-Team, weil er mit seinen begeisternden und heiteren Artikeln immer wieder mal den Blog so famos belebt. Mehr Infos über ihn findest du ganz am Ende des Beitrags.


Gaiole in Chianti, Toskana. Eigentlich ein Ort, zu dem man nicht extra reisen würde.

Eigentlich.

Ausser am 1. Wochenende im Oktober.

Die Eroica in der Toskana

Das Retro-Radrennen “L’Eroica”

Am Wochenende vom 1. und 2. Oktober 2022 fand sie in diesem Gaiole in Chianti zum 25. Mal statt – die Eroica. Ein “Retro-Radrennen” von allergrösster Bedeutung und Güte.

Der Kodex schreibt vor, dass nur Räder mitfahren dürfen, die vor 1987 gebaut wurden. Also mit Schaltung am Unterrohr, Pedale mit Käfig und die Bowdenzüge hoch über den Lenker gezogen. Ausserdem ist moderne Sportkleidung unerwünscht.

Und wer ist dabei… genau Kerschi und Kumpels (k&k 😂).

Aber der Reihe nach.

Felix, Stefan, seine Frau Tanja und ich reisen bereits am Donnerstag, den 29.09. nach Castellina in Chianti und checken im Hotel Palazzo Squarcialupi* ein.

Castellina ist ein wunderbarer kleiner Ort auf einem für die Region typischen Bergrücken.

Gegenüber dem Hotel befindet sich ein kleines, entzückendes Bistro, das “I Templari”. Wir werden dort die nächsten Tage noch viel Spass haben.

Vor dem Rennen

Registrierung

Am nächsten Tag fahren wir schon früh ins etwa 20 km entfernte Gaiole.

Der ganze Ort steht im Zeichen der Veranstaltung, und wir bewegen uns mitten im Geschehen.

Unzählige mobile Bars, Verkaufsstände, selbst permanente Eroica-Geschäfte und Lokale laden ein. Der kleine Ort mit etwas mehr als 2700 Einwohnern lebt das ganze Jahr von diesem Wochenende.

Wir melden uns offiziell an, empfangen unser Startpaket und lassen unsere Räder “typisieren” und registrieren.

An den unzähligen Fahrrädern, Ersatzteilen und Gadgets kann man sich kaum sattsehen.

Immer wieder treffen wir auf Menschen, die dasselbe Rennen bestreiten wollen. Sie geben uns wichtige Tipps.

Eroica-Rad vor dem Rennen registrieren

Testfahrt nach Siena

Am Samstag Morgen machen wir aber erstmal eine Testfahrt mit unseren Vintage-Rädern, welche wir eigens für dieses Wochenende angeschafft haben. Nach Siena – es sind nur 25 km, aber die Vielzahl der Hügel haben es in sich. Eine wunderbare, schöne Gegend.

Aufgrund unserer Räder werden wir häufig angesprochen und man wünscht uns Glück.

Testfahrt für l'Eroica

Siena ist eine Stadt aus der Etruskerzeit, entstand also lange vor Christi Geburt. Die Universität von Siena wurde 1240 gegründet und seither kontinuierlich betrieben.

Neben vielen unglaublich schönen Gassen, Plätzen, Kirchen, Geschäften, sticht die Piazza del Campo heraus wie ein Blitz in einer Neumondnacht. Sie gilt als einer der grössten mittelalterlichen Plätze Europas und ist zwei Mal im Jahr Austragungsort des Palio di Siena, einem Pferderennen. Und Fixpunkt der Eroica.

Siena ist eine der typischen Bergstädte der Toskana, deshalb heisst es für uns mal wieder hochklettern. Durch die Porta Ovile, eines der 7 Stadttore Sienas, tauchen wir in jahrhundertealte Geschichte ein. Wir sind demütig und schieben unsere Räder. Um später an der Piazza del Campo zu Mittag zu essen.

Auf Schrauben-Suche

Bevor es wieder zurück nach Castellina geht, will Kerschi seinen Sattel einstellen. Und prompt reisst die Schraube. Fieberhaft suchen meine Freunde und ich nach einem Fahrradgeschäft. Aber die Internet-Auskünfte sind genauso zuverlässig wie hierzulande der Wetterbericht. Ich suche mich zum Krüppel, und nichts ist zu finden.

Stefan und Tanja fahren zur Unterkunft zurück, Felix wartet auf meine Rückkehr von der Schraubensuchtour. Es bleibt ihm auch keine Wahl, ich bin nämlich mit seinem Rad unterwegs. Aber Felix wäre nicht Felix, hätte er nicht schon eine Idee. Wir klappern jedes Geschäft ab, das nur entfernt eine Schraube haben könnte. Aber wir ernten nur “purtroppo no” (leider nein).

Irgendwann bleibt Felix vor einem Ledergeschäft stehen, legt sein Köpfchen zur Seite und denkt laut: ”Wer Ledertaschen herstellt, braucht Verbindungsmaterial.” Aus dem Augenwinkel schaue ich ihn an und denke “soso”. Ich will ihn aber nicht seiner Illusion berauben und trete ohne grosse Hoffnung ein.

Ersatzteilsuche im Ledergeschäft

Der Dame im Geschäft zeige ich ein Bild der Schraube, die ich suche, und – tataaa! – sie kommt mit einer kleinen Schale mit ein paar Schrauben hervor, und eine einzige Schraube passt. Felix, du kleiner Fuchs…

Schraubensuche im Ledergeschäft

Ein Platten

Nun können auch wir zurück nach Castellina. Aber das Glück währt nur kurz… ein Platten stoppt uns. Und wer wird ihn wohl haben? Yes, it’s me.

Plattfuss vor Eroica-Beginn

Wir rufen Stefan an, dass er uns abholt. Die Wartezeit vertreiben wir uns sinnvoll und gönnen uns einen Schluck Wein.

Dann muss aber schnell das Rad wieder fix gemacht werden. Es muss ja morgen an den Start.

Den Rest des Tages verbringen wir bei den “Templern” in Castellina. Nach ein paar Gläschen Wein, muss ich feststellen, dass ich schon wieder einen Platten habe.

Um 23 Uhr hilft mir Felix, mein Bike wieder startklar zu machen.

Danach darf/muss er mich rasieren.

Markus "Kerschi" Kerschhacker

Gut gemacht, Felix… für den Rest kannst Du nichts 🤣

Am Rennen L’Eroica

Karte der Eroica-Runde ab Gaiole in Chianti

So verläuft die 106 km-Route (1600 Höhenmeter) der Eroica:

Start um 7 Uhr

Wir müssen um 7 Uhr am Start sein, deshalb bekommen wir sehr früh unser Frühstück. Wir parken ein paar Kilometer ausserhalb von Gaiole und radeln zum Start.

Unglaublich viele Radler kommen uns bereits entgegen. Die Aufregung steigt.

Wir zeigen am Start unsere Teilnahmepässe, holen uns den ersten Stempel ab, und los geht das Abenteuer.

Von Gaiole geht es südwärts Richtung La Madonna. Schon sehr bald beginnt die weisse Strasse.

Beginn der Eroica

Und schon stellt sich die erste Panne ein. Und wieder bei mir. Das dumme Geschwätz meiner “Freunde” brauche ich wohl nicht extra erwähnen.

Da Felix eine Pumpe mitnahm, habe ich meine im Hotel gelassen. Aber das Ding war dermassen undicht, dass ich mit dem Mund mehr reingebracht hätte. Es hilft nichts, muss ich halt so los. Unterwegs bekomme ich von ein paar Jungs dann doch noch eine Pumpe geliehen, die nicht so undicht ist wie die von Felix.

Rotwein und Musik zur Stärkung

Der erste Verpflegungsstopp ist in Siena auf der Piazza del Campo. Direkt vor dem Palazzo Pubblico mit seinem beeindruckenden 87 Meter hohen Torre del Mangia.

Eroica-Stopp in Siena

Nach kurzer Stärkung mit heissem Kaffee und ein paar Keksen geht es wieder weiter.

Bis Colle Malamerenda dürfen wir auf Asphalt fahren. An einem unerwarteten Checkpoint geht es wieder auf die Strade Bianche. Die Hügel mit den schönen Zypressen sind unglaublich beeindruckend.

Eroica strada bianca

Leider schwebt immer das Schwert eines weiteren Plattens über uns. Das sind die Zugeständnisse an so ein Unternehmen. Dafür werden wir mit einem unglaublichen Erlebnis belohnt.

Der nächste Verpflegungsstopp ist in Monteroni d’Arbia. Wir werden mit Musik empfangen. Es scheint ein kleines Volksfest zu sein. Unmengen toller Räder und verrückter Menschen fluten den Platz. Es gibt Eintopf, Obst, Kekse, Kaffee, Käse und… ROTWEIN🤩

Verpflegungsstopp in Monteroni d’Arbia

Platten Nummer 2 …

Leider ist uns übermässiger Genuss auf Grund der Restdistanz unmöglich. Wert wäre er es allemal.

Nach ein paar weiteren Kilometern geht es wieder auf Schotter und es tut einen Knall. Felix dreht sich zu mir und sagt OHJE… er meinte mich. Platten Nummer 2…

Während wir wieder reparieren, bleibt ein Team aus Holland stehen. Ebenfalls Platten. Deren Nummer 5 (nach etwa 60 km). Den Rekord möchte ich nicht einstellen.

Schotterpiste Eroica

Wir schlängeln uns weiter einer steilen Schotterpiste hoch. So steil, dass manche schieben müssen. Neben der Strecke bieten Menschen ihre Hilfe in Form von Reparatur und Obst oder Wasser an. Die Region lebt mit.

Nach anstrengenden, quälenden, nunmehr auch sehr warmen 10 km erreichen wir endlich wieder eine Asphaltstrasse. Die Strada Provinciale Lauretana. Sie verläuft einem Berggrat entlang und bietet zu allen Seiten eine fantastische Sicht.

Strada Provinciale Lauretana

… und 3… und gleich noch 4

Stefan will Fotos machen, also machen wir Halt. Ein Pause tut gut. Als wir wieder auf die Strasse einbiegen, sehe ich einen Riss in der Asphaltdecke und warne meine Kumpels vor dem Spalt.

Ich hätte mich wohl besser selbst gewarnt. Das Vorderrad bringe ich noch heil drüber, das Heck schafft es aber nicht. Platten Nummer 3.

Stefan und Felix schauen mich stumm an. Ich sehe den Spass aus ihren Gesichtern weichen. Mir wird langsam heiss. Aber nicht wegen der Sonne. Da der Mantel so stramm auf der Felge sitzt, ist das immer eine Prozedur.

Wieder kommt einer zu Hilfe und gibt schlaue Tipps. Ich will ihm gerade nicht sagen, was er damit tun soll, ich brauche seine Pumpe.

Wieder in der Spur, geht es 10 km vorwiegend bergab. Aber nicht durchgehend. Nach 2 km ist schon wieder Pause. Wer mitgezählt hat weiss was jetzt kommt. Kerschi hat den Plattenzähler auf 4 gestellt. WARUM NUR IMMER ICH?! Warum nie Stefan oder Felix? Ich wünsche es ihnen ja nicht, aber es ist doch unfair 😤

Unser Schlauchvorrat ist aufgebraucht, die Klebeflecken halten nicht richtig. Es ist zum Verzweifeln. Nun glühen auch die Jungs. Ich kenne sie zu gut, um nicht zu erkennen, dass sie ziemlich genervt sind. Es tut mir echt leid für sie.

Um weiterzukommen, umwickeln wir die schlechten Flicken mit einer Mullbinde. In der Hoffnung, die Luft hält. Tja, Felix, unser Sani, ist ein Multitalent. Mein kleiner Wickie.

Bitte eine Pumpe!

Wir halten Teilnehmer auf und bitten wieder um eine Pumpe. Vier Jungs aus der Pfalz bleiben stehen, als es ihnen aber zu lange dauert, hauen sie wieder ab und lassen uns unverrichteter Dinge stehen. Die aufkommenden Gedanken, Wünsche und Flüche werde ich an dieser Stelle nicht aufführen. Auch wenn du sie noch so gerne lesen möchtest.

Zum Glück kommt ein “Besenwagen” der Veranstalter vorbei und stoppt. Er hat eine Pumpe dabei, die er gefunden hat. Das Ding kann echt was. Als er geht, kommt er nochmal zurück, drückt mir die Pumpe in die Hand und sagt, er braucht sie nicht. Und wünscht mir Glück.

Den Segen hätte ich schon früher gebraucht, aber trotzdem, vielen Dank.

Es sind “nur” noch 40 km bis Gaiole. Ich fahre wie auf rohen Eiern. Jeden noch so kleinen Stein erkläre ich zum Feind.

10 km vor Gaiole gibt es noch Verpflegung. Neben dem Üblichen gibt es Spiegeleier, Käse und Rotwein. Ich nehme mir mal 2 Gläser, ich brauche Mut für die letzte Etappe 🤣

Wein-Stopp an der Eroica
Stopp an der Eroica

Jetzt geht es richtig los, steil bergab, tiefe Furchen, spitze Steine. Ich male mir aus, welche Gedanken Stefan und Felix gerade haben.

Schotterstrasse an der Eroica

Zu dritt durchs Ziel

Es hilft nichts. Wenn es sein muss, trage ich das Bike die letzten Kilometer. Ich lasse uns den Erfolg nicht mehr verhageln.

Die letzten 5 km gehen auf Asphalt. Die Luft hält und wir 3 Helden fahren, uns an den Händen haltend, von Zuschauern gepeitscht, gemeinsam durchs Ziel.

Aller Ärger ist verflogen. Wir sind aufgenommen in den Kreis der Finisher und offiziell Helden.

Ich war knapp dran, am holländischen Erfolg! Manchmal ist es besser, nicht als Sieger durchs Ziel zu gehen 🙂

Finisher der Eroica

Was für eine verrückte Sache!

Chianti-Hahn an der Eroica

Stefan mutiert zum Oberhelden. Er fährt mit Tanja, die auf dem Weg auf uns gewartet hat, noch mit dem Rad zurück zum Hotel. Hut ab, Kumpel.

Den Abend verbringen wir wieder bei, besser MIT den Templern. Sie kochen uns was Feines, laden uns auf Wein ein und feiern mit uns.

Wir lachen bis spät und feiern dann im Hotel weiter. Auch da fühlen wir uns wie zu Hause.

Wie die Zeit doch voranschreitet. Zu schnell, aber sie bleibt unvergessen.

Weinverkostung zum Abschied

Am Montag lädt uns Tanja zu einer Weinverkostung ins Weingut Castello Albola in Radda ein.

Weingut Castello Albola in Radda

Ein fantastische Location mit ausgezeichneten Weinen.

Auf 150 Hektar, eingerahmt von 4000 Olivenbäumen, werden unglaubliche Köstlichkeiten produziert.

Weingut in der Toskana

Die tolle Aussicht gibt es gratis.

Zypressen und Landschaft der Toskana

PS: Die Eroica wird mittlerweile in mehreren Ländern ausgetragen, aber die Mutter aller Rennen ist in Gaiole in Chianti.

Eroica Rennrad

Gastautor Markus Kerschhacker

Ich arbeite als Betriebsingenieur für Elektrotechnik in der chemischen Industrie, liebe Radfahren in allen Varianten, aber auch Wandern und Langlaufen. Mit dem Biken habe ich seeeehr spät angefangen, etwa mit 42. Biken ist mein ganz persönlicher Stresskiller.

Meine Lieblingsländer sind Österreich, USA, Schweiz, Italien, Kroatien, Spanien, China, Schottland, Frankreich. Unbedingt bereisen möchte ich noch: Kanada, Australien, Neuseeland, Südamerika.

Artikel-Autor Markus Kerschhacker

Mein wichtigstes Hobby: Meine Radfreunde und unser gemeinsames Projekt Seaside2Seaside: Einmal quer durch die USA mit dem Rennrad Kalifornien – Florida. Und zwar nicht nur mit sportlichen Ambitionen, sondern mit einem karitativen Zweck: Wir sammeln für das Projekt Suibamoond, das Kinder unterstützt, die Gewalt erlebt haben.

Tausend Dank, lieber Kerschi, für deine lustigen, positiven, motivierenden Artikel!