Eines Abends in Kalabrien. Ich habe schon über 100 Kilometer in bergigem Gelände in den Beinen. Mein Knie schmerzt, der auf der Karte eingezeichnete Campingplatz existiert nicht mehr, ich bin müde und hungrig und will endlich ankommen, duschen, essen.

Nein, eigentlich will ich zu Hause sein. Mit einer Freundin in meiner Küche sitzen, Couscous mit verkochtem Ratatouille vor uns. Und ein Glas Wein. Plaudern, lachen, philosophieren, träumen.

Freundinnen im Cafe

Aber nein, eben: ich bin in Kalabrien auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz.

Ich steure eine Frau in meinem Alter an. Sie trägt zwei offensichtlich schwere Einkaufstaschen. Ob es in der Nähe einen Campingplatz gibt, frage ich sie. Sie stellt die Taschen ab und mustert mich zuerst einmal eingehend.

Ich erwarte die üblichen Fragen: “Bist du alleine? Hast du keine Angst? etc.”

Aber nein, die Frau schaut mich an, als wäre ich was ganz Tolles. Dann sagt sie:

“Du machst das Richtige.”

Ich bin erfreut:

“Wollen wir tauschen? Hast du ein normales Leben zu bieten? Bett, warme Dusche, grosses Nachtessen? Du kannst das Rad haben.”

Sie kichert und ist sofort einverstanden:

“Ja, du kannst meine drei Kinder und meinen Mann und seine Mutter versorgen, einkaufen, kochen, putzen, organisieren, zuhören, stark sein, Reklamationen entgegen nehmen und auf ein Danke verzichten. Willst du das?”

Jetzt muss ich auch lachen.

“Ja, klingt nach viel Spass. Du kannst dich dafür auf den kalabrischen Steilstrassen mit dem schwersten aller Fahrräder rumquälen, jeden Abend einen Platz fürs Zelt suchen und alleine nachtessen. Mein schmerzendes Knie kriegst du umsonst dazu. Willst du immer noch?”

“Naja, vielleicht doch eher nicht. Da putze ich lieber”, schmunzelt sie. “Aber denk nur: Was für eine Freiheit du hast!

 

Was für eine Freiheit!

Volltreffer!

Stimmt. Was für eine Freiheit ich doch habe! Deswegen bin ich ja mit dem Fahrrad unterwegs, weil ich diese Freiheit unmittelbarer kaum spüren könnte. Dieses Bewusstsein ist mir wohl im Zuge der kalabrischen Mühsal kurzzeitig abhanden gekommen.

Plötzlich will ich ihr geordnetes Leben nicht mehr. Meine Version ist doch wesentlich verführerischer:

  • Unsicher, aber lebendig.
  • Anstrengend, aber reich entlohnt.
  • Schmerzhaft, aber auch genussvoll.

Ja, ich tue das Richtige. Und plötzlich bin ich gar nicht mehr so müde und abgekämpft wie zuvor. Eine neue Frische belebt mich.

Was für eine Freiheit!

Wir unterhalten uns noch eine Weile, lachen über den vermeintlichen Zufall unserer Begegnung, darüber, dass wir jederzeit wählen können, wie wir weiterleben wollen und dass unsere Leben sehr wohl in Ordnung sind, so wie sie sind.

 

Freundinnen mit Fahrrad

 

Wir plaudern, lachen, philosophieren und träumen wie zwei Freundinnen. Bloss nicht am Küchentisch mit Couscous und Wein, sondern irgendwo auf einer Strasse in Kalabrien.

Dann zeigt sie mir, wie ich am schnellsten auf einen Campingplatz komme. Wir verabschieden uns und gehen unserer Wege.

Ganz zufrieden mit unseren Leben. Der Tausch hat sich total gelohnt.