Nach der Umrundung des Luberon machen Monsieur Fnac und ich uns auf in den Süden. Ziel: Marseille.
Mistral
Ich hätte es Frankreich wirklich nicht zugetraut, aber wir kriegen dauernd gutes Frühstück. Heute in einer Konditorei in Cavaillon. Wir essen tüchtig, damit wir Energie fürs Pedalen haben.
Pedalen müssen wir aber gar nicht, weil heute einer den Mistral angedreht hat. In der Stadt selber merken wir nur, dass es etwa zehn Grad kühler ist als gestern. Und ein bisschen windig.
Ha! Ein bisschen windig. Der Mistral fegt gnadenlos von Nord nach Süd. Glücklicher Zufall: wir fahren von Nord nach Süd. Der Wind schiebt uns also stracks unserem Ziel entgegen. Die Pedalen haben wir heute nur, um die Füsse bequem abzustellen. So muss es auf einem E-Bike sein. Noch cool.
Bici-Röckli-Wetter ist das aber nicht. Erstens ist mir kalt und zweitens flattert das elegante Teil unflätig in alle nicht gewollten Richtungen.
Dann fahren wir erstmals eine Kurve, und das ist lebensgefährlich, weil links die Lastwagen schön knapp überholen und von rechts der Wind böig reinprescht. Wir schlenkern so dahin als kämen wir direkt von der Kneipentour.
Saint Rémy de Provence
Nach 15 Kilometern müssen wir uns in Saint Rémy de Provence von der Schussfahrt erholen. Das ist aber auch ein überaus attraktiver Ort. So einer, den man ohne bepacktes Fahrrad im Schlepptau anschauen will.
Wir wagens, lassen die Räder an einem belebten Platz stehen, streifen durch die Gassen und sitzen lange in einem Strassencafé, die vielen bunten Touristen beguckend. Ferien. Schön.

Saint Rémy de Provence
Les Alpilles
Dann lassen wir uns über die Alpilles schieben. Ein kleines Pässchen, das in der Tat an die Alpen erinnert, wunderschön. Es ist schon verdächtig: immer da, wo es aussieht wie in der Schweiz, finde ichs ganz besonders schön. Besser als andersrum.

Über die Alpilles
Les Baux de Provence, das am Südhang der Alpilles klebt, ist uns dann schliesslich zu überlaufen. Die Lage ist aber einmalig. Ein Nest, das hoch oben in die Felsen gebaut ist. Von Ferne sieht man nur die Burg, das Städtchen bleibt gut verborgen. Was ja wohl Sinn und Zweck der waghalsigen Lage war, ursprünglich mal.
Bei Rose und Roland
Eigentlich wollen wir heute bis Arles kommen. Bei der Durchfahrt durch Fontvieille (und mit der gestrigen mühseligen Unterkunftssuche im Hinterkopf) fallen die vielen einladenden Unterkünfte auf. Der Ort wirkt so entspannend ruhig und unspektakulär. Nach dem heutigen Touristenrummel ganz das Richtige für uns.
Die erste Pension, in der wir nach einem freien Zimmer fragen, ist ausgebucht. Freundlicherweise fragt der Receptionist aber im B&B L’ousteau blanc an, begleitet uns gleich noch hin, und wir werden herzlich empfangen.
Ich mühe mich tapfer mit meinem Französisch ab, plaudere ein bisschen mit der Gastgeberin, soweit es meine Künste zulassen, bis sie irgendwann in bestem Berndeutsch fragt, woher wir denn seien.
Rose ist ursprünglich Französin. Sie hat 45 Jahre mit ihrem Mann Roland in Bern gewohnt, darum spricht sie Berndeutsch. Vor wenigen Jahren haben sie hier ein Haus gebaut (Roland ist Architekt) und zwei hübsche Gästezimmer eingerichtet. Sogar eine eigene Kaffeemaschine hat unser Zimmer.

Zimmer im B&B von Rose und Roland
Von der Strasse her erkennt man nicht, dass es hier eine Übernachtungsmöglichkeit gibt, worum wir ja oft froh wären. Als wir Rose darauf hinweisen, sagt sie sofort, dass sie das bewusst nicht machen. Sie wollen ja nicht täglich Gäste, es reichen ein paar im Monat. Zudem seien sie im Touristenbüro gemeldet, und aus der Schweiz haben sie mittlerweile genug Leute, die sie empfehlen würden. Nicht die grossen Massen wollen sie anziehen, sondern Qualität bieten, für jene, die zu ihnen finden.
Rose reserviert uns einen Tisch im “La cuisine” für das Abendessen. Wir hätten das Lokal nicht ausgewählt, aber natürlich ist es qualitativ herausragend. Wir überessen uns einmal mehr komplett mit dem Salade de chèvre chaud und dem reichen Hauptspeiseteller mit Tintenfisch und kräutergewürztem Gemüse. Und schliesslich muss ja auch noch das Grand Marnier Soufflé unbedingt sein. Mon dieux, ist das gut!
Dass es bei Rose und Roland ein grandioses Frühstück geben würde, war zu erwarten. Das einfache Birchermüesli mit frischen Erdbeeren trifft unsere Geschmack völlig. Im Gegensatz zu jenem der französischen Gäste. Deutsche und Schweizer würden das Müesli schätzen, sagt Rose, sonst eher niemand.
Wir kommen ins Reden, es ist spannend, was die beiden zu berichten haben. Sie geben uns haufenweise Tipps zu Routen und Sehenswürdigkeiten, worüber wir sehr froh sind, so unvorbereitet wir die Region bereisen.
Arles
Es ist bereits 10 Uhr, als wir losfahren. Wäre ein Zimmer frei gewesen, hätten wir eine Nacht angehängt.
Keine 5 Minuten entfernt ist die Moulin de Daudet. Mit dem Mistral im Gesicht versteht man, warum hier Mühlen gebaut wurden.

Moulin de Daudet
Mit Zwischenhalt beim römischen Aquädukt fahren wir die mickrigen 15 Kilometer nach Arles. So früh kommen wir sonst nie an. Wir beziehen ein Hotelzimmer und schauen uns die Stadt an. Geduscht, ohne Fahrrad, ohne Sorge ums Fahrrad, sehr gediegen.

Das ist NICHT Monsieur Fnac. Ein anderer kurrliger Fahrrad-Kauz.

Arles

Wenn du zu tief ins Weinglas guckst, macht der Pfeil plötzlich eine Kehrtwende.
Durch die Camargue
Heute ist wieder so ein Velo-Glücks-Morgen. Sonnig, Rückenwind, verkehrsarme Landsträsschen. Und die Camargue. Viel Wasser, viele Blumen, viele Flamingos.

Monsieur Fnac in der Camargue mit Rückenwind

Flamingos
Port St. Louis ist unser heutiges Etappenziel. Endlich am Meer. Oder so halb – das offene Meer liegt ein paar Kilometer südlicher, aber durch die vielen Lagunen ist man hier doch schon reichlich von Wasser umgeben.
Wir übernachten im B&B von Arlette und Richard. Sie bestehen darauf, dass wir nach unserer Ankunft ein Bier mit ihnen trinken. Das ist besonders abenteuerlich, weil Richard ein Französisch spricht, das jenseits dessen liegt, was wir einst in der Schule gelernt haben. Er sieht ein bisschen zum Fürchten aus, stellt sich dann aber als gutmütig und humorvoll heraus. Arlette bedient uns, er stellt uns Fragen, wir kämpfen mit der Sprache.
Dann fahren wir ans Meer. Ein echter Radweg führt einem Kanal entlang bis zum Strand. Wir sehen junge Schwäne, reichlich Vögel und einen vielbeschäftigten Fischotter. Und viel Industrie am Horizont. Marseille ist nahe.

Bei Port St. Louis
Panne
Arlette bereitet uns ein fantastisches Frühstück auf der Terrasse. Richard ist bereits zum Fischen gefahren, so können wir mit Arlette plaudern, die ein wesentlich humaneres Französisch spricht als ihr Mann.
Sie verdient als erfahrene Erzieherin 1600 Euro im Monat. In 5 Jahren wird sie pensioniert und erhält dann etwa 1200 Euro Rente. Das Haus ist praktisch abbezahlt. Nach der Pensionierung wird ihr Leben einfacher, sagt sie. Heute reinigt sie auch die drei Gästezimmer, bereitet das Frühstück für die Gäste, macht den Garten. Aber sie wirkt nicht unzufrieden, bloss etwas verlebt.
Ein wunderschöner Tag, der Mistral hat nachgelassen, wir sind bester Laune und motiviert, die bevorstehende Strecke durch die Industrie rasch hinter uns zu bringen, ans Meer zu kommen und triumphierend in Marseille einzufahren.
Das Glück dauert eine Viertelstunde, und dann donnert Monsieur Fnac über einen harten Absatz. Der Vorderreifen ist sofort platt. Der hintere erst in dem Moment, als der neue Schlauch im Vorderrad aufgepumpt ist. Einen zweiten Ersatzschlauch haben wir nicht dabei und flicken wollen wir hier an dieser Strasse, wo die Lastwagen vorbei rumpeln und wir von der Sonne fast gegrillt werden, auch nicht.
Kaum beschliessen wir, Autostopp zu machen, hält ein Pickup. Der Mann in unserem Alter spricht etwas Deutsch, weil er mit einer Deutschen verheiratet ist. Er hebt unsere Velos auf die Ladefläche, als wären sie federleicht. Leider kann er uns nur zu einer Kreuzung bringen, weil er auf einer Dienstfahrt ist und die vorgegebene Strecke nicht verlassen darf.
“Station” bedeutet nicht Bahnhof
Wieder stehen wir an der Strasse, und schon hält ein kleiner Transporter mit zwei Arbeitern. Sie bieten ohne weitere Umstände an, Monsieur Fnac und sein Fahrrad bis zur “Station” zu fahren. Für mein Fahrrad ist kein Platz, also pedale ich zur “Station”. Dass eine “Station” eine Tankstelle ist, verstehe ich erst später, als ich mitten in der Industrie stehe und den Bahnhof suche. “Gare”, klar, ist der Bahnhof, nicht “Station”.
Schliesslich finde ich Monsieur Fnac wieder, und wir suchen nach einer Lösung, um weiter zu kommen.
Eine Familie bringt Monsieur Fnacs krankes Fahrrad im Anhänger unter und fährt ihn zu einem Supermarkt, wo Fahrrad-Ersatzteile zu kaufen sein müssten. Sind sie aber nicht. Jetzt wirds mühselig. Suchen, fragen, tragen, schieben, suchen, tragen, fluchen. Es ist heiss, uns reichts, wir humpeln zum Bahnhof und nehmen den Zug nach Marseille.
Marseille
In Marseille nochmals ein Effort: Hotelsuche mit fahruntüchtigem, aber beladenem Fahrrad. Als wir dann aber endlich eine Bleibe haben, ist die Dusche die schönste aller je erlebten Duschen und der Bummel durch die Stadt in der Abendstimmung die Belohnung.

Marseille
Am nächsten Tag finden wir einen Fahrrad-Mechaniker, der dem Velo im Nu wieder auf die Räder hilft. Und die Pension Edelweiss, die wir unbedingt als Unterkunft in Marseille empfehlen können.
Das arabische Viertel tuts mir besonders an. Wie lebendig es da ist und spannend, und die tollen Süssigkeiten und die Gewürze, ooooh, der Orient ruft!
Adieu Monsieur Fnac
Monsieur Fnac reist heute heim. Er ist halb erleichtert über das Ende seiner ersten Fahrrad-Reise, halb traurig über das Ferienende, als er die lange Zugreise antritt.
Ich habe noch eine Woche Zeit und will so schnell es geht über Nizza und Monte Carlo nach Italien flitzen.
An diesem Tag verirre ich mich tausendmal, bis ich Marseille endlich auf der richtigen Strasse verlasse, freue mich über den wunderschönen Pass und den Naturpark Calanques, ärgere mich über den erneut aufbrausenden Mistral, lasse mich von einer Wespe in die Wange stechen und falle schliesslich vor ansehnlichem Publikum in Sanary-sur-mer hin. Dem Fahrrad geschieht zum Glück nichts, ich komme mit einem gestauchten Finger und ein paar blauen Flecken davon. Helfen tut keiner.
Am nächsten Tag fahre ich in Italien ein. Adieu France, adieu Monsieur Fnac, es war mir ein Vergnügen!

Sanary-sur-mer
[…] ich das selber hinkriege. Wegen der Nabenschaltung. Einen Platten flicken kann ich schon, das kann Monsieur Fnac bezeugen. Aber nachher das Rad so montieren, dass die Nabenschaltung wieder […]
Chère Doro
Mit grossem Vergnügen habe ich deinen Bericht gelesen. Deine Art zu schreiben ist einfach wunderbar. Kompliment. Ich hatte sogleich wieder die amüsanten Geschichten und die vielen Bilder vor Augen. Haben wir echt so viel Spannendes erlebt? Ja, das haben wir. Und ja, ich würde es wieder tun, sogar mit dem Fahrrad.
Eine kleine, aber nicht unwesentliche Anmerkung zu deiner Ausführung, hätte ich da noch. Du hast von einer Panne kurz vor Marseille geschrieben. Ich habe diesen beinahe dramatischen Vorfall irgendwie anders in Erinnerung.
Ich bin nicht über einen harten Absatz gefahren, sondern via kleiner Rampe über einen vermeintlich künstlich erhöhten Fahrradweg. Nach wenigen Metern war der Fahrradweg plötzlich durch eine grosse Lücke von mindestens 50 cm unterbrochen. Nur mit viel Glück und instinktivem Handeln meinerseits konnte ich einen fatalen Sturz abwenden, indem ich wie ein Skiflieger versuchte mit dem Fahrrad über das riesige Loch zu springen. Glücklicherweise ist mir dieses Vorhaben gelungen. Ausser zwei geplatzten Reifen bei meinem zweirädrigen Gefährt, Monsieur Ross, ist nichts schlimmeres passiert.
Wer, in Gottes Namen, baut Strassenabsätze die aussehen wie Fahrradwege? Und warum sind die Fahrradwege unterbrochen? Und warum musste ich immer zuerst losfahren? Gut, das mit dem „zuerst losfahren“ weiss ich jetzt.
Bien cordialement
Monsieur Fnac
Lieber Monsieur Fnac
Ich freue mich unbändig, dass du dich über den dramatischen Vorfall in Südfrankreich persönlich äusserst. Es ist immer wichtig, die Ereignisse von mehreren Sichtpunkten aus zu beleuchten.
Den “harten Absatz” habe ich in der Tat sehr unpräzise beschrieben. Deine Empörung über den fatalen Unterbruch des Gehsteigs, teile ich. Die Franzosen sollten gescholten, oder besser noch: bestraft werden für diese halsbrecherische Konstruktion.
Zum Glück also deine heroische Reaktion, Monsieur Ross kurzzeitig als Flugzeug umzunutzen. Lieber zwei platte Reifen als ein gebrochenes Genick!
Warum du “immer zuerst losfahren” musstest? Ja, auf meiner aktuellen Reise fehlt mir nun derjenige, der zuerst losfährt. Eine Art Vorkoster für die Strassen. Nun muss ich mich allen Herausforderungen des Wegs selber stellen. Das ist hart. Du hast diese Aufgabe vorbildlich erfüllt.
Was mich zu gleichen Teilen erstaunt wie freut: du würdest tatsächlich wieder mit dem Fahrrad reisen? Grossartig.
Guten Flug, Monsieur Fnac!
[…] Aber wir fahren noch nicht heim, es geht weiter Richtung Süden. Und da erleben wir was! […]